Editionskriterien

Der zweite Alte

Leithandschrift
Ka1 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. St. Georgen 64
Kontrollhandschriften
Ka2 Karlsruhe, Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 241
Ka3 Karlsruhe, Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 242
St3 Stuttgart, Landesbibliothek, Cod. theol. et phil. 2° 144

Der zweite Alte


1

[1] Der ander alte leret dich, wie man gott suͦchen sol.


2

[1] Betrahte wol und merke, du minnende sele, wie gar adelich dich min genos gewiset het uf dich selber, waz du siest und wie durch dinen willen alle creaturen geschepfet ist und sint dir ze trost undertan gemachet. [2] Und hab dich daz nit ze andaht geraiczet , so volge mir, dem andern alten, waz ich dich leren wil. [3] Und ist min creftige lere daz du got suͦhen solt, wa du in vinden múgest. [4] Wan ez sprichet der prophet Ysaias: 'Suͦchent den herren, die wil man in vinden mag, und ruͤffent in an, die wil er nahe ist.' [5] Wan die stunde, so der mensch ist in zit, so mag er gott suͦchen und och vinden. [6] Wenne aber er komet us dem zit der gnaden, so ist suͦchen und vinden zergangen. [7] Davon sprichet Davit in dem salter: 'Suͦchent den herren, so werdent ir in allen guͦten werken bestetiget, und suͦchent sin antlúcz ǎne underlasz.'


3

[1] Man sol got nit suͦchen ǎn ernst, ǎn andaht , ǎn begirde . [2] Man sol in och nit suͦchen in zorn, in vintschaft, in nide, in hasse noch in hoffart und in uͤbermuͦt noch mit unlust. [3] Man sol in nit suͦchen umb zitlich ere und guͦt und umb weltlichen ruͦme noch umb zitlich ersettung . [4] Och sol man in nit suͦchen in fulkait noch in betrogenheit , in gelisenhait noch in kainem freve l, wan in solicher wise vindet man in niendert , man welle in denne suͦchen zuͦ ainem verderben , als Judas tet, der boͤse suͦcher, und nit zuͦ ainem vinden, als in suͦchten die drig Marien bi dem grabe und in anbetteten, und des wurden sú erfroͤwet. [5] Sant Bernhardus leret úns in ainer predige got suͦchen und sprichet: Wilt du gott suͦchen nuczlich und nit úpiclich, so suͦch in in warhait mit flisze und ǎn underlǎsz und in allain und núczit zuͦt im, daz dich sin geierren múge und dich von im gewisen moͤhte. [6] Wan wer in also suͦchet, so ist ee muglich, daz himelrich und erde zergange, ee der suͦcher verfalle und in nit vinde. [7] 'Ir sond suͦchen, so werdent ir vinden, und sond anklopfen, so wirt úch uf getǎn', sprichet Jesus Cristus in dem ewangelio. Und des aller ersten suͦchent daz riche gottes und sin gerehtikait , so wirt úch alle úwer notdurft zuͦ geleit. [8] Es sprichet sant Hugo von der arch Noe: Wer gott suͦchet mit begirde , der vindet in mit bekennen und bevindet sin in beruͦrunge ; won waz man suͦchet mit grosser begirde und mit flisze, daz vindet man mit trost und mit groszen gelust . [9] Es sprichet sant Ambrosius in dem buͦche von Ysaac: Du solt den alle zit suͦchen, dez du an libe und an sele alle zit geniessen maht. [10] Du solt den ǎn underlasz suͦchen, ǎn den du kain guͦt volbringen maht, wan got wil dem suͦcher begegnen und sich gegen im naigen und in enphahen darumb, daz er erhoͤhet werde.


4

[1] Was gemainet aber daz, das vil menschen gott ernstlich suͦchen und sich doch gott nit zehant lǎt vinden und sich dem menschen ain wile verzihet und etwenne vor im im verbirget und joch von im flúhet und doch etwenne ungesuͦchet zuͦ dem menschen komet mit manigerlaige vermanunge ? [2] Darzuͦ antwurt sant Gregorius und vnd Isiderus an dem buͦche von dem hoͤhsten guͦt und Orosorus úber der minne buͦch und sprichet: Got wil sich nit zehant lǎn vinden darumb, daz der flisze und ernst des suͦchers endlich und grosz werde; und wil sich ǒch vor dem suͦcher ain wile verziehen darumb, daz des suͦchers begirde werde inbruͤnstig ; und wil sich och vor dem suͦcher verbergen darumb, daz sin minne grosse und ernstlich werde. [3] Er flúhet ǒch etwenne von dem menschen darumb, daz der mensche endlich nǎch jage und niemer uf hoͤre; und komet doch zuͦ dem menschen ungesihtig , ungesuͦchet und ungeladen darumb, daz er den menschen an raicze ze aller goͤtlicher suͤssikait . [4] Die sinne sint alle verborgen in goͤtlicher haimlicher wiszhait, die alle sachen ordenen kúnnen ze dem nesten und aller besten guͦt. [5] Dis alles sprechent die drige mit enander. [6] Darzuͦ bittet sant Anshelmus und sprichet in siner buͦcher ainem: Eya herre und gott miner, lere min hercze, wa und wie ich dich suͦchen súlle; bist du nit hie, wa ich dich denne vinde. [7] Bist du aber denne an allen enden, so lere mich dich suͦchen in dem verborgen lieht, dar inne du wonest. [8] Lere mich suͦchen und erzoͤge dich dem suͦcher, wan nieman mag vinden dich, du erzoͤgest dich denne im, also du bist.


5

[1] Aber ich, der ander alt, rate dir, minnende sele, ob du got reht suͦchen und vinden wilt, so betrahte dich wol, waz du suͦchest, wa und wie unde wie lange du suͦchest, so vindest du mit sicherhait den, den du suͦchest. [2] Was du suͦchest, daz ist der, der dir geben het alles, daz du bist liplichen und gaistlichen, und dir ǒch noch geben mag, daz du werden maht, und von dem du alles daz hast, daz in diner aignen natur beschlossen ist. [3] Betraht och dich, wa du suͦchest, wan du vindest in in allen creaturen nach sinem gewalt , nach siner uffenthalte , nach siner gegenwúrtikeit ; und begegenet dir in aller der welt als ain gewaltiger richsner und usrichter . [4] Er begegnet dir in diner menschait als ain erloͤser und ain minner. [5] Er begegnet dir in dem verdampneten als ain erschreken und ain grosser grusel . [6] Er begegent dir in den engeln als ain smake und ain gezierde . [7] Er begegenet dir in im selben als ain ewig beginnen alles guͦtes, als ain mittel aller usrihtunge und als ain ende ǎn alle zilung und ain guͦt, dar inne alle ewig schecze beschlossen sint. [8] Du solt och wissen, wie du in suͦchest. [9] Und suͦch in mit endelicher arbait und mit flisze ǎn alles verdriessen. [10] Suͦch in mit bescheidenheit und vernúnftikait ǎn alles widerstreben, mit willen und mit frier ledikait in aller minne. [11] Won es sprichet Origenes uͤber der minne buͦch: Min herre und gott, allain minne vindet dich. [12] Und der dich minnet, der hett dich; und der dich het, der minnet dich ewenclich darumb, daz er dich niemer verlier. [13] Aber wie lange du in suͦchen solt, daz du in vindest, daz leret dich sant Bernhardus von den xii stapfen der diemuͤtikait und spricht: Du solt in so lang suͦchen under din selbes warhait, bis du dich selber vertailest in allen stuken, bis du ain gancz mitliden gewinnest mit dinem naͤsten und bis du die ewigen warhait genczlich schǒwest in ainem rainen lutern herczen.


6

[1] Och so rǎte ich dir, geminte sele, wilt du gott reht vinden, so suͦche in in dir selben. [2] Won er sprichet in dem hailgen ewangelio: 'Daz richie gottes ist in úch.' [3] Und suͦche in dinem besten lieplichen sinnen mit guͦtem bilde uswenndig und inwendig in dinem rainen herczen mit andehticlicher betrahtung . [4] Suͦch in dinem gemuͤte in grosser sennunge nach im, in diner sele mit menschlichem jamer und gelust nach im ane underlasz. [5] Suͦch in dinen kreften diner sele mit vol richer minne und begirde in allem vermúgen. [6] Suͦchest du in also, so mag er dir niemer engǎn. [7] Du vindest in und behebest in und sprichest mit der geminnten sele: 'Ich han vonden, den min sele minnet, und wil in bi mir behaben , bis ich in fuͤr in min berait kemerlin.' [8] Davon sprichet sant Gregorius in dem buͦch von den sitten: Wa sich die sele hin keret oder wa si sich hin wendet, wil si wol dar in sehen, daz ir got erzoͤget hett, so vindet sú in, wie sú wil. [9] Ist si joch wol verfallen in ain brúchlich leben, so mag si doch got als gar innenclich suͦchen, daz si ainen ganczen vollen kere zuͦ im tuͦt, der si bi got behaltet , und in dem kere si widerumb komet in daz ewig erkennen goͤtlicher zesemkait , dar inne si alle innekeit , warhait goͤtlicher wesenhait begriffet.


7

[1] Das aber du, geminte sele, gott lernest dester bass suͦchen, so lere ich dich, ander alte, daz du innenclich in allen dinen krefften betrahten solt, so du aller vernúft­klichest kúnnest, waz got sie, wer er sige und wie er sige. [2] Und wie daz sige, daz Crisostonus der guldin munt sprichet uͤber Paulus epistel , daz wir hon ainen soͤlichen got, der all unser vernúfte úbertriffet und úber alle unser gedenke ist und nieman volsprechen noch vollreden kan noch bedenken von unbegriffenlicher wirdekait, die an im lit. [3] Doch giht er, daz gott ist ain edels beginnen ǎne allen anefang, ain zart úbernaturlichs guͦt ǎne alles begriffen, daz also gar úber alle masse guͦt ist, daz dis weder engeln noch menschen noch enkain creature mag begriffen noch verstan noch davon reden. [4] Wan nun gott ain úberswenkent guͦt ist, so sprichet sant Hugo in dem buͦch von dem kloster der sele, kain stonde ist, dǎr inne der mensche gottes guͤtekait nút nússet noch siner erbermde nit bevindet. [5] Also solt du, geminnte sele, kain stund lǎn vergan, du soͤllest von gott dar inne gedenken, und in weler weler stunde du von gott nit gedenkst, die solt du scheczen fuͤr ain verlorn zit.


8

[1] Aber nun so merk, du geminnte sele, wenne du zartlic h, herlichen und úbervernúfticlich von gotte wilt betrahten , waz er sie, so leret dich sant Augustinus also von im gedenken und betrahten in vil siner buͤcher, daz gott ist daz aller hoͤhste und beste guͦt, das aller suͦssest und lustigest guͦt, daz aller ainfaͤltigest und gerehtest guͦt, daz aller warheftigest und vernúnftigest guͦt und daz aller claͤrest und durchlúhtendest guͦt. [2] Gott ist och daz ewig leben, in dem, von dem, us dem, durch den alles daz ist, daz da ist oder gewesen mag oder werden kan. [3] Der sich von im keret, der stirbet; der sich zuͦ im keret, der lebet. [4] Der von im vallet, der wirt ze núte; der in in flúhet, der vindet, waz er begert, und mag núcz bessers vinden. [5] Richardus sprichet in dem buͦch von dem schowenden leben: Gott der ist in allen dingen, und darumb ist núczit jungers denne er. [6] Gott ist zwischent allen dingen, und darumb so ist núczit haimlichers denn er. [7] Gott ist úber allú und ob allen dingen, und darumb so ist núczit hoͤhers denne er. [8] Gott ist under allen dingen, darumb ist núczit túffers denne er. [9] Gott ist neben allen dingen, und darumb ist nút braiters denne er. [10] Gott ist an allen steten, darumb ist nút gegenwertigers denne er. [11] Aristotiles, der natúrlich maister, sprichet in dem buͦch von dem hymel und von der welt: Gott ist ainig und ist ainer. [12] Er ist ewig. [13] Er ist edel úber allen adel. [14] Er ist daz ewig leben. [15] Er ist unwandelber. [16] Er ist ungetailet. [17] Er ist unverkeret und unverendert. [18] Gott ist och die ewig sache, die da alle zit und ǎne underlǎs belibet von gebresten geschaiden und ist volbraht und volkomen und ist ain loblich anevange aller dinge und ain zierlich mittel aller geschoͤpfte und ain volkomen ende aller wesenhait .


9

[1] Dis alles leret dich, wie du gott suͦchen solt, und leret dich gott finden und wer er sige und waz er sige, als vil es din vernunffte mag und wil begriffen. [2] Unde wenne du din gemuͤte und din gedenke dar in legest, so vindest du gott soͤlich in im selber und vindest och dich in im und in in dir und in allen andern creaturen. [3] Won er hett selber gesprochen in dem ewangelio: 'Des menschen sun ist komen, daz er suͦchen wil den verlornen menschen, und wil behalten , daz verdorben ist.' [4] Nieman mag gott vinden, er werde denn vorhin von got vonden, als die lerer sprechent. [5] Disen sin lere ich allen dich, ander alte, minnende sele. [6] Volgest du mir nun, so behebest du das ewig leben und den guldinen trone in seliger wise mit gott ǎn ende.


Zitierhinweis

Der zweite Alte. In: Otto von Passau digital, hg. im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Lydia Wegener, Elke Zinsmeister, Jens Haustein und Martin Schubert (2018-2022). Berlin. 03.03.2023

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