Editionskriterien

Der erste Alte

Leithandschriften
Ka1 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. St. Georgen 64
(ab 1.2.6)
St3 Stuttgart, Landesbibliothek, Cod. theol. et phil. 2° 144
Kontrollhandschriften
Am1 Privatbesitz, ehem. Amsterdam, Bibliotheca Philosophica Hermetica, BPH 207
Ka2 Karlsruhe, Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 241
Ka3 Karlsruhe, Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 242

Der erste Alte


1

[1] Der erst alt lert, wer der mensch sigy.


2

[1] Aller erster alt wiset dich, minnenden sel, uff dich selber, daz du voran betrahten solt vor allen dingen, wannan du komen sigist, war du wellest, wer du sigist, wer du waͤrd in diner muͦter lib, was du worden bist, waz du noch werden muͦst. [2] So antwúrt dir des ersten alten ler und spricht: Got het dich gemachet us aͤschen zuͦ ainem vernúnftigen menschen und hest dich selber nit gemachet denn von gnaden in schuld und von der menschait widerumb ze aͤsch. [3] Und darus redet Hugo in dem dritten buͤch von der sel und spricht: Gang in din hercz und schecz dich selber, wannan du komen sigist, wie du lebest, waz du wirkest, wie vil du lones verdienest oder súnden machest, ob du taͤglich zuͦnemest oder abnemest , mit was gedenken din hercz tag und naht bekúmert sigy, mit waz begirde din gemuͤt gevangen sigy, wie dick du von dem boͤsen gaist bekort wirst und von der welt betruͤbt und von dinem aigen lip gelitten wirst. [4] Und wenn du dich von innen und usnan betrahtest , so bistu dir selber unverfangen zuͦ goͤtlichem erkennen von dir selber und maht got niemer erkennen, wenn du dich selber nit wilt erkennen. [5] Nochdenn maht du begriffen den, der ob dir ist, wenn du nit enwaist, wer du bist, wan der erst und fúrnemest spiegel got ze herczen sehen ist, daz der mensch sich selber suͦchet und vindet, wer er sigy. [6] Dis sprichet Hugo von sant Victor und hillet mit im Richardus von dem schowenden leben. [7] Es ist vil besser und núczer, daz der mensche lern sich selber erkennen, denne daz er wiszen wil der hymel loͤffe , der kruͤter craft, der edeln gestain wuͤrken, der tier natur, der menschen sitten, wise, tuͦn und lǒn; aller dinge, sache kúnnen und wissen wil; und himelrich und ertrich wise erspuͤren wil. [8] Wan vil menschen wissent vil sachan, die sich selber nit wissent noch erkennent. [9] Und doch selber sich erkennen und wissen ist der hoͤhsten kuͤnste aine, die dem menschen zuͦgehoͤrent ist, ist nach dem ewigen leben ze stellent . [10] Wan ez spricht Cassiodorus uͤber den psalmen Miserere mei deus etc.: So ist der groͤst nucze ainem diener gottes erkennen sin aigen krankait und in sinen naturlichen creften und verdienen kain zuͦversiht han. [11] Won in dem menschen wahset gottes craft, dǎ der mensche im selber abe gǎt in natúrlicher craft und sich selber vindet unmehtig in allen dingen wider gott. [12] Daz sprichet der. [13] Sant Gregorius sprichet in siner lere: Als vil minder der mensch sich selber ansiht, als vil minder er im selber missvallet; und als er me enpfindet dez liehtes goͤtlicher gnaͤden, als vil und me, bas und ie basz lert er sich selber straffen und erkennen. [14] Daz der. [15] Dem gelich sprichet sant Bernhardus an ainer predige úber der minne buͦch: Ich waisz wol, daz nieman mag behalten werden ǎn sin selbs erkennen, wan sich selber erkennen ist ain muͦter dez hailes und der diemuͤtikai t , ain erbaͤrmde goͤtlicher vorht und ain anevang alles geluͤckes. [16] Daz der sprichet.


3

[1] Wilt du dich selber wol erkennen, so merke wol, ob alle ding diner werke fuͦglich sin, ob sú zimlich sin, ob sú núcz oder guͦt sient, ob sú dir lonber sient, ob sú dir vor der welt út ergerlich sient, ob sú gott genaͤm e, werd und liep von dir sient, ob sú gott erlichen und loblichen sient, ob sú dinem naͤhsten hilflich und loblich und nuczlich sient gaistlich und liplich, so hest du ain guͦt erkennen.


4

[1] Der erste alte wiset dich, minnende sele, noch uf ain edlers und ain bessers, denne du selber bist, und druket dir in din gemuͤte , daz die hailig drivaͤltikait gesprochen hǎt in dem ersten buͦch Moyse also: [2] 'Wir sollen machen ainen menschen nǎch unserm bilde und nǎch unser glichnúste , der vor sie den vischen in dem mere, den den vogeln in den lúften und den tieren uf erde und allen creaturen.' [3] Dabi wirst du, minnende sele, gelert, daz unser herre den menschen gebildet hett nach dem aller besten, daz ieman betrahten und gedenken kan, daz ist nach im selber allain. [4] Und merke, hette gott út bessers in im selber gehept denne sich selber, er hette úns och darnach geschaffen und noch edler gemachet. [5] Got het och dem dem menschen vollen gewalt verlúhen uͤber alle ander creaturen. [6] Und als gott allain ist herre uͤber den menschen, also ist der mensche herre uͤber alle ander creaturen. [7] Wer ist nun der, nach des bilde und gelichnússe der mensche geformet ist? [8] Antwurt daruͤber Origenes uͤber Moyses buͦch und spricht: Ez ist unser herre Jesus Cristus, der der erst aingeborne sune ist dez ewigen vatters in himelrich; von dem sant Paulus geschriben het in siner epistel ainer und sprichet: 'Er ist ain glast der eren und ain figur goͤtlicher substanci , der da treit in im alle ding in dem wort der warhait'; der da sprichet: 'Der mich siht, der sihet minen vatter'. [9] Als der da siht ain ander bilde, der siht den, dez daz bilde ist; also der daz ewig wort siht, der siht den vatter, usz dem daz wort flúszet. [10] Und darumb ist daz wort mensche worden, daz wir im zwivalticlich gelich wurdin, aines nach dem goͤtlichen bilde, daz ander nach der enpfangnen menscheit , darinne er sich nach úns gebildet und gelichet het. [11] Dis sprichet alles Origenes.


5

[1] Nu ker dich, du minnende sele, uf daz bilde dines uszflusses , daz du nach goͤtlichem bilde gemachet bist. [2] Und welle dich das nit in dir selber zuͦ gotte raiczen , waz du gewesen siest, waz du nun bist, waz du werden solt und och maht, so laus dich des zuͦ got reiczen , daz du nach goͤtlichem bilde geformet bist als ain beschaiden und vernúftig creature. [3] Die forme dir mit uͤbernaturlicher craft ingedruket und in friem willen usgesprochen ist, als sanctus Jacobus sprichet in siner epistel : [4] 'Er het uns willecliche geborn mit dem wort der wǎrhait, daz wir wurden etwaz beginnen siner creature', sprichet Jacobus in siner epistel . sant [5] Davon redet Anshelmus in siner lere: Herre, ich danke dir der gnade, daz du in mir geschaffen hest din bilde, und wenne ich dich betrahte , daz denne ich allain gedenke an dich und dich allain minne, daz du mich dir gelich gemachet hest. [6] Wan hon ich joch din bilde in mir vertilget mit minen súnden, so kanst du es wol wider bringen mit diner gnad. [7] Daz sprichet der.


6

[1] Wie aber gott sin adelkait und sin adelich bilde der gewaltigen und gebeneditten drivaͤltikait besunder in die sele gegossen und besunder in dem lip geformet het, daz sol ain ieclichú claru sele in sich druken und erkennen, daz sú dester neher in gott gezogen werde mit goͤtlicher gelichnússe und darinne verainet , als uns Hugo bewiset in in dem buͦche von den súben sacramenten und sprichet also: [2] Der ewig vatter ist von niemant, der sun ist von dem vatter, der hailig gaiste ist von in baiden. [3] Also ist die drivaͤltikait sunder gegossen in die sele, wan der muͦt , der da haisset die gehuͤgde , ist von im selber, die vernunft ist von dem muͦt , und die frǒde ist von muͦt und von vernunfte, und die drú sint ain sele. [4] Also vatter, sun und hailig gaist ain got sint, also ist in menschen lip drivaltikait , wan die figur ist von ir selber, darusz komet forme , und usz figur und forme komet dez bildes schoͤni, und die drú sint ain lip. [5] Also ist ingedruket der hailgen drivaͤltikait bilde sunder in sele und sunder in lip, daz doch allen andren creaturen underzogen und froͤmde ist. [6] Dis sprichet Hugo etc. [7] Augustinus sprichet von der drivaͤltikait : Gedenknússe , vernufft und wille sint ains, darumb daz sú ain sele sint und ain lip und ain wesen machent. [8] Daz der. [9] Der das wesen und die bildung , die gotte also in die sele gedruket het, wol verstǎt, der mag an goͤtlicher bekantnússe niemmer verirren , sprichet Richardus an sinem buͦch von der drivaͤltikait .


7

[1] Ach, du geminnte sele, wie gar edel daz ze betrahtent ist, darnach der mensch geformet und gebildet ist, wan daz ist daz aller beste, daz kain hercze betrahten kan. [2] Ob dich aber dis nit zuͦ gotte raiczet oder zúhet, so wiset dich doch der erst alte uf die gezierde und schoͤni aller creaturen. [3] Wie gar lustig die got allú geschoͤpfet und gemachet het allain durch des menschen willen, der allain nucze, narung trost und notdurft dǎvon hon sol; von allen waszern rainkait ze súbern, ze kochent, ze vischent und ze vil andern sachen. [4] Und von dem ertriche so hest du gras, bluͦmen, bǒme und allerlayge fruht, korn, wine, vihe, flaische und ǎn zal vil ander nucze. [5] Von den bergen so hest du ysen, kupfer, ply, gold, silber, edel gestain und gar vil anders rates. [6] Von dem luft hest du winde, regen, vogel, haiter und das darzuͦ hoͤret. [7] Von dem himel hest du sunnen, mone, gestirne, lieht, tage und naht. [8] Von dem fúr hest du hicze, werme, lieht und vil ander notdurft . [9] Von den engeln hest du ler, wisung , huͦte , huͦte, rǎt, hilfe, botschaft und dienst, als sant Gregorius sprichet: Sú sint diener der menschen und hand groszen flisze fúr úns. [10] Daz der. [11] Dis alles bewiset Davit in dem salter und sprichet: 'Herre, du hest den menschen geseczet uͤber alle dinú werk und hest im alle creaturen undertǎn gemaht.' [12] Es sprichet och die glose úber Josues buͦch, das alle creaturen dem súnder hessig sint, aber dem guͦten menschen dienent si nach billicher zimlichait . [13] Dis sol dich, minnende sele, alle stunde tragen in got, won ez got alles durch dinen willen geschepfet hett. [14] So maht du die creaturen unendlich nuczen nach dinem ewigen verderben oder aber wol niessen nach dinem ewigen verdienen , won ez sprichet Dyonisius von der engelischen jerachie, daz sich die creaturen zuͦ got aller nehst fuͤgent und och fuͤgen soͤllent, die von gott aller maist gaben hant enpfangen. [15] Aber nieman hǎt von got alz vil enpfangen als der mensche, und darumb ist er got aller maist dienst schuldig ze tuͦnd. [16] Daz der.


8

[1] Nu merke, du minnende sele, sprichet sant Augustinus úber Johannes ewangelium wie gar milt dir got ist, daz er dir alle creaturen vergeben ze dienst genaiget hett - zuͦ uffenthalt , zuͦ narunge, ze spise, ze gelust , ze trost ze kestegunge , ze bessrunge. [2] Noch du kain dinge betrahten kanst, goͤtlich wiszhait hab dich in creaturlicher geschoͤpfte herlich und wol versehen , daz du darinne vinden maht nǎch allem lust, wes du begerst. [3] Wan in der lengrung der creaturen vindest du gott almaͤhtig, in der groͤssy der creaturen vindest du gott alz ain ewig sach, in der ordnung der creaturen vindest du gott in aller wiszhait, in der uszrihtung der creaturen vindest du gott guͤtig und wie du wilt. [4] So begegnet er dir in allen creaturen nach dem aller besten. [5] Daz spricht der.


9

[1] Das lere ich alles erste alte dich, minnende sele. [2] Volgest du mir, daz du dis alles ze herczen leist und darusz lebest, so maht du den guldin trone mit der ewigen crone wol erwerben.


Zitierhinweis

Der erste Alte. In: Otto von Passau digital, hg. im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Lydia Wegener, Elke Zinsmeister, Jens Haustein und Martin Schubert (2018-2022). Berlin. 03.03.2023

URL: https://otto-von-passau.de/chapter-detail.html?id=O6476569. Abgerufen am: 29.03.2024.