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Der neunte Alte

Leithandschrift
Ka1 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. St. Georgen 64
Kontrollhandschriften
Ka2 Karlsruhe, Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 241
Ka3 Karlsruhe, Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 242
St3 Stuttgart, Landesbibliothek, Cod. theol. et phil. 2° 144

Der neunte Alte


1

[1] Der |ed 31,6 núnde alte, der leret von goͤtlicher gnade.


2

[1] | (30rb) Jhesus Cristus ist ain macher und ain geberer der goͤtlichen gnaden, als sanctus Johannes sprichet in sinem ewangelio. [2] Und darumb, du minnende sele, als dich vor mir die aht alten wol und herlich geleret hǎnt - min gesellen, die alten - von gar vil notdurftiger materie, die da gehoͤrent zuͦ dem ewigen leben, so sol ich núnder alte dich, minnende sele, leren von goͤtlicher gnade, die alle ding vermag und ǎne die nieman fruhtber werke volbringen kan, daz du alles din leben in gnaden gottes ernúwern und erwitteren solt.


3

[1] Wie|ed 31,9 daz si, das in warhait gnade und minne ain dinge sie, so gebent doch die hailgen lerer soͤlichen underschaide nach den werken, das minne gott allain liep het úber alle dinge. [2] Aber gott minnet den menschen durch gnaden willen fúr alle creature und enpfahet alle sinú werke in dankberkeit und in wolgevallen der gnaden. [3] Darus nime ain soͤlich lere, daz gnade git der sele ainen anevang ze verdienen ewigen lon, aber die minne git ain ende ze niessende |ed 31,14 in allen lobelichen werken. [4] Davon sprichet Rabanus úber daz dritte buͦche | (30va) Moysi: Guͦt anevǎng und fúrsaͤcze von goͤttlichem infliessen ist unser beginnen der werke. [5] Aber daz wir die werke volbringen in ir ende, daz machet goͤtlich gnade verstricket in minne. [6] Och|ed 31,14 spricht Hugo der sancto Victore úber die engelschen jerachie:Nach goͤtlichen gnaden koment goͤtlich gaban, nach gaben verdienan, nach verdienen mengerlai lone ewiges niessens, das doch alles von minne und von gnaden flúset, die ains ǎne die andern nit sin mag. [7] Gnade|ed 31,15 ist ain volkomene und ain gezierde und ain genczunge aller ander tugende, damit die sele vindet vor gott ain gedenklichait, damit si gott wol gevallet und im geneme wirt in allem irem erbieten, won alle ander tugende sint gnaden tailsam. [8] Von der sprichet Augustinus in dem buͦch von der drivaͤltikait: Alle die aigenscheffte, die minne het, die het och gnade, darumb das sú die aller kostberosten gaben sint, damit gott tailet und von enander schaidet die erwelten von den verworfnen.


4

[1] Nu mag nieman kumen von blosser nature sin selbs ze dem liehte goͤtlicher gnaden ǎne den geber der gnaden, als unser herre sprichet in dem ewangelio: 'Ǎne mich múgent ir núcze vol| (30vb) bringen.' [2] Und Augustinus sprichet: Der dich geschaffen het ǎne dich, der rehtvertiget dich nút ǎne dich. [3] Und|ed 31,23 ist och ze wissent, daz ain gnade ist gemain allen creaturen, das sú ain gehilfe und ain ufenthalt ist ainer ieclichen creature zuͦ irem wúrken, und daz ist goͤtlich hilfe, ǎne die niemant núczit vermag. [4] Es ist och ain ander gnade, die haisset ain besunder gnade, damit sich der mensche schiket und fuͤget|ed 31,30 zuͦ tugenden und zuͦ gnadricher uͤbunge, mit frighait sines ledigen willen keren von dem boͤsen und sich ergeben dem guͦten, als er mag. [5] Es ist och ain ander gnade, die gotte vergebens git, als naturliche eͣrtekeit sint, als daz ain mensche húbsche ist, schoͤne ist, sinnig und vernúnftig ist, wol geleret ist, wol singen und sagen kan, wol wúrken und vil|ed 32,1 maisterschafte kan und vil ander naturlicher liste het, daz doch alles gnedig gaban von gotte sint, darumb ain ieglich mensche gott billich dankeber sol sin.


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[1] Es ist och ain aigne|ed 32,5 gnade und die ist aller herlichest, die gott dem menschen gegeben mag, und der gnade ist Jhesus Cristus ain hǒpt und alle sin erwelten, die sint gelider,von der ich núnder alte dich, minnende sele, leren wil, und merke, wie gar kreftig die | (31ra) gnade sie. [2] Mit|ed 32,8 der gnade, die da aigen ist, wirt der mensche gott genaͤm und wert und liep. [3] Mit der gnade verdienet der mensche ewigen lǒne. [4] 'Won die gnade gottes ist das ewig leben', sprichet Paulus in ainer epistel. [5] Ǎne die gnade mag nieman zuͦ nemen noch in volkomenhait wachsen|ed 32,15 noch zuͦ dem ewigen leben komen, won si beweget den frien willen wol ze tuͦn, wol ze gedenken, wol ze betrahtent und wol ze wúrkent und git kraft in allan loblichen erzoͤgungen. [6] Sú versoͤnet den súnder mit got und|ed 32,20 ewig pene verwandlet si in zitlich pene und pene und buͦsse nimet si abe in disem zit. [7] Die gnade machet alle werke verdienig, und was guͦter werke mit súnden verloren werdent, die bringet sú wider. [8] Sú machet die sele|ed 32,25 ain gemahel Cristi, ain tohter des ewigen kúnges und ain tempel des hailigen gaistes. [9] Sú rainget die sele und durchlúhtet si und volbringet sú in aller volkomenhait. [10] Sú beweget der sele gemuͤte uf ze gott und in|ed 32,30 gott, darinne die sele allain von goͤtlichem geluste in sinem claren gegenwurf begeret gespiset werden. [11] 'Und davon', so sprichet si mit sant Paulus von der gnaden gottes, | (31rb) 'so bin ich, das ich bin, und die gnade sol niht wan in mir sin und sol alle zit in mir beliben.' [12] Dem gelich sprichet Augustinus in dem buͦche von dem gaiste und der sele: Die geseczte gottes ist minne. [13] Die geseczte ist geben, das man gnade suͦche, aber die gnade wirt geben, daz der mensche alle geseczte mit gnade volbringe und volfuͤre alle zit. [14] Es sprichet ǒch die glose úber sant Pauls epistel: Mit der gnade gottes wirt der mensche erlediget und erloͤset von allem boͤsen und ǎne gnade mag nieman kain guͦt getuͦn, weder mit gedenken noch mit willen noch mit werken noch mit minnen. [15] Nút allaine, daz sú zoͤge oder wise, was man tuͦn soͤlle, joch das man mit liebe kúnnen und tuͦn und lǎn sol, das leret alles goͤtlich gnade. [16] Ain ander glose sprichet, daz dis goͤtlich bilde, das gott von nature in úns gedruket hǎt, das widerbringet gnade. [17] Und die untugent, die der mensche hett wider sin guͦt nature, hailet gnade. [18] Und mag och kain val geschehen in irdischem geluste noch begirde, es vertilget gnade alle sin masan der sele und bringet die sele widerumbe in ir natúrlich geseczte nach gottes wolgevallen. [19] Dis sprichet alles die glose.


6

[1] Dis aigen gnade ist och ain herrlichs | (31va) klaid der sele, damit die sele gott und allen sinan hailgen und engeln aller beste gevallet. [2] Won die gemahel gottes sol sich klaiden mit wissen und schinigen klaidern, sprichet sant Johannes in der tǒgen buͦche, und die claider sint goͤtlich gnade. [3] Gnade ist och ain schinend lieht in der sele, darinne die sele alle guͦte dinge siht und offenbert. [4] Gregorius, der sprichet: Wenn goͤtlich gnade die sele durchglestet und durchschinet, so offnet si in úns alle verborgen haimlichait. [5] Gnade ist och ain hailsame erczni e. [6] Won es sprichet Augustinus an ainer predige, daz gnade in dem herczen trurkait verswendet und widerwertikait zerstoͤret, alle schreken hinwirfet, guͦt begirde erfúllet.


7

[1] Won nun die gnade als vil herlicher aigenschaft het, daz si goͤtlicher minne gelich ist, so lere ich núnder alte dich, minnende sele, wie du goͤtlich gnade gewinnen solt, damit du den guldin trone geczieren muͤgest, won du ǎne gnade zuͦ dem himelschen trone nit komen maht. [2] 'Mit tǒffe in dem wasser und in dem hailgen gaiste gewinnest du gnade, der dem rich gottes nach volget', sprichet Jesus Cristus in dem ewan| (31vb) gelio. [3] Mit tǒffen wirt alle angeborn súnde vertriben und gnade geben, damit der mensche gefristet wirt vor naigunge in súnde. [4] Aber in dem hailigen gaiste wirt gnade gewunnen durch das sacrament des tǒffes und git gott durch sich selber lediclich gnade in abweschunge aller súnde, also daz sich gnade und súnde bi enander nit lident, sprichet Augustinus von dem tǒffe. [5] Es spricht och sanctus Bernhardus von dem goͤtlichen schowen: Gnade gewinnet man mit inniklicher hailikait, ain selige betrahtunge von gott mit hailiger begirde nach gott, mit suͤssem geluste in gott. [6] Es spricht och aber Bernhardus: Gnade gewinnet man mit ainem rúwen vergangner boshait, mit versmaͤhunge gegenwúrtiger guͦteͣt zitlicher sachen und dingen und mit inbrúnstiger minne und begirde kúnftiger kúnlichait, sprichet Bernhardus von dem frigen willen. [7] Es sprichet Ambrosius in ainer predige: Gnade gewinnet man mit pinlichem liden libes und gemuͦtes, mit staͤter gedulte ane verdriessen und mit úberwinden aller widerwaͤrtikait und mit vestem gemuͤte sich halten zuͦ gott. [8] Und wirt och gnade nit gekǒffet umb silber noch umbe | (32ra) golde, man vindet si mit starkem und vestem globen und zuͦversiht zuͦ gott. [9] Gnade wirt och funden mit vil adelicher und grosser uͤbunge guͦtter werke und fliehunge boͤser werke und mit vil ernstlicher bihte und súnden rúwen und mit vollem andaht den hailigen fronlichnam unsers herren Jesu Cristi dicke und vil seliclich enpfahen. [10] Won ez sprichet Dyonisius von der engelschen jerachie, daz der hailig fronlichnam Jesu Cristi nit allain dem menschen gnade git, er meret joch alle gnade in dem menschen, me denn iemant erdenken kan noch mag. [11] 'Es wirt och gnade geben von vil andehtigem betten und vasten und sunderlich, daz ain guͦter mensche begert fuͤr daz ander mit rehtem ernst und bettet und bettet mit flisze, so wirt in baiden gnaden geben' sprichet unser herre in dem ewangelio. [12] Es bitten och die hailgen in dem ewigen leben, das den menschen uff erde gnade geben werde, daz sú besiczen in ewikait, daz sú besessen hant, und daz der boͤsen engel val mit úns erseczet werde in dem ewigen himelriche. [13] Und | (32rb) davon koment den menschen zemale vil gnad von goͤtlichen gaben, als die maister haltent in der goͤtlichen kunste. [14] Davon sprichet Bernhardus von dem frigen willen: Als vil daz riche der goͤtlichen gnaden in dem menschen gemeret wirt, der gewalt der súnden wirt als vil geminret und vernihtet in dem menschen.


8

[1] Gnade het den edelsten ursprunge, den hercze kan oder mag betrahten oder kain vernunfte erdenken, won sú ist gewúrczelt in gott und flússet us gott und wǎr in si sich tailet, mit dem ist gott und lept got in im. [2] Wer ir aber nit het, der ist tǒt vor gott, und verfahet in kain guͦt werke nút úber al [3] Davon so sprichet der wise Salomon: 'Die gnade gottes ist als daz paradis, das vol ist aller guͦten segen.' [4] Davon sprichet Bernhardus von dem frigen willen: Gnade erkicket den frigen willen dem menschen, wan si im in sayget edel gedenke. [5] Gnade hailet den frigen willen, won si im begirde verwandlet. [6] Gnade sterket den frigen willen, won si in fuͤret in fruhtbere werke und behaltet in darinne, daz er nit in gebresten gevallen mag. [7] Jesus Crist ist och nach siner m enschait ain fuͤlmiet fuͤlmiet und ain gruntfeste aller gnaden, | (32va) us dem úns usflússet volkomenhait aller gnaden, als sanctus Johannes sprichet in sinem ewangelio: [8] 'Wir hant in gesehen als ainen aingebornen sun vom vatter vol gnaden und warhait, und von siner volkomenhait hon wir alle enpfangen gnade umb gnade. [9] Geseczte ist durch Moysen geben, aber gnade und ir arbait durch Jhesum Cristum worden.' [10] Dis stǎt alles geschriben in sant Johannes ewangelio, won durch Jesum Cristum ist uns alle gnade geben und erworben. [11] Davon sprichet Richardus von dem schowenden leben: Die gnade Cristi wúrket in úns zuͦnement bilichait goͤtlicher kunste und wishait und wúrket in úns merunge verdiennen tugende und goͤtliche guͤtikait und wúrket och ainen anvange ewiges niessen und des lones suͤssekait nach allem wolluste.


9

[1] Darnach lere ich núnder alte dich, minnende sele, daz du gnaden me eren solt denne alles richtuͦmes und schaͤcze und eren diser welte. [2] Won hǎnt sich die haidenschen maister geǎnet aller schecze durch kúnste und wishait willen, so solt du dich vil me ǎnen alles zit| (32vb) lichen guͦtes durch goͤtlicher gnade willen, die als gar kostber ist, daz sú nieman vergelten mag. [3] Won gnade ist als der luter balsamus, der alle verdorbene dinge widerbringet, spricht Bernhardus in ainer predige úber der minne buͦch. [4] Du solt och me begirde hǎn nach goͤtlicher gnade, denne liep hǎn und legen uf dinen aigen lip und uf din sele, won die marterer erbuten ir libe bis in den tode, umb gnade ze erwerben. [5] Won es sprichet Augustinus: Es ist vil núczer, in gnaden durch gott sterben, denne ǎn gnade wider gott leben. [6] Es sprichet och Anshelmus in dem buͦch warumb gott mensch worden ist: Och solt du gnade minnen und vil me denne din aigen sele, und solt och lieber din sele verlieren, denne von goͤtlichen gnaden entwichen, und e din sele vernihten, denne du wellest von goͤtlichen gnaden keren. [7] Es spricht och Paulus in siner epistel ainer: 'Ich mach min sele nit wirdiger denne mich selber, won daz ich bin, daz bin ich von den gnaden gottes.' [8] Och sprichet Bernhardus úber der minne buͦch: Merke uf dich selber, wenne dir gnade zuͦvalle, daz du sú | (33ra) nit undankberlich enphahest und nút unnúczlich us ir wúrkest. [9] Und du hab vorht in dir, wenn gnade von dir flússet, daz du denne núczet bist und och unfervangen, und wenne dir gnade underzogen wirt, daz du zehant in dem valle bist, und habe joch sorge, ob dir gnade widerumb gegeben werde, daz du sú verlieren maht. [10] Selig ist der mensche, dem gnade geben wirt und sú behaltet und darus vernúftiklichen wúrket. [11] Mit gnade, sprichet Augustinus von dem gaiste und der sele, wirt alle geseczte und gebotte gottes erfúllet. [12] Es sol och ain gerehter mensche vil lieber nach goͤtlicher gnade stellen und sich mit flisze darzuͦ schiken denne zuͦ den gaben des hailigen gaistes. [13] Won gnade, die gebirt als ain muͦter alle die gaben, die der hailig gaiste geben mag. [14] Und darumb sol der mensche in gnaden gesterket werden, als sanctus Paulus sprichet: Ich hǎn alle ding, wenne ich gnade hon und úberflússe.


10

[1] Vil me solt du, geminte sele, begeran goͤtlich gnade ze hǎn, denne goͤtliches gesichtes ze sehende oder ze niessende, won ǎne die gnade gottes ist es | (33rb) unmúglich gott ze sehen oder ze niessent. [2] Ain ieglich mensche, der wise ist, der sol lieber sin in der helle mit gnaden denne in dem himelriche ǎne gnade, sprichet Anshelmus, und lieber sin ane saͤlikait, denn sin in totsúnden. [3] Won goͤtlich wiszhait, die mag nieman weder gesehen noch geniessen ǎne gnade, darumb daz die gnade gottes ist daz ewig leben. [4] Wie vil man grosser kraft und wisshait lernet von goͤtlichen gaben und von tugenden, so muͦs es doch gefrúhtet und gegabet werden und geborn us der aller hoͤhsten kraft, darus alle gnade kumet und flússet. [5] Won ez sprichet Ambrosius úber Lucas ewangelium: Gnade ist vil fruhtbaͤrrer denn betten, won gott git me gnade, denne ieman begert und gebitten mag.


11

[1] Darumb lere ich dich, geminte sele, daz gnade der erst kere ist und anvang dez menschen, dadurch der mensche geczogen wirt und ze gott geruͤffet. [2] Und darumb so suͦchet gnade ain rain luter hercze, gefriget in aller unschulde, und ain vestes starkes gemuͤte und gedult in allem liden, ainen herten grossen stritte wider alle untugende. [3] Und also leret úns Anshelmus in dem buͦche von dem frigen willen | (33va) und sprichet: Gnade hilfet dem frigen willen, das er sin ordunge ze gott nit enlǎt, und waz im widervalles begegenet in bekorunge, da brichet er sich von und schiket sich zuͦ der schlehtikait des aller hoͤhsten guͦtes. [4] Gnade rehtvertiget den menschen. [5] Was gebresten dem menschen anhanget, die straffet gnade und lútert si mit buͦsse. [6] Si leret die beschaidenhait recht tuͦn und widerrǎttet alle irsalunge, und wa gnade nit enist, da mag der mensche vor súnden nit gefristet werden. [7] Und stat doch mit warhait, daz etlich menschen ain rain selig leben hand, den doch gnade wirt underzogen, als Crisostonus der guldin munt sprichet úber Paulus epistel, daz daz underziehen der gnaden beschicht den menschen darumb, daz sú in gnaden út úbermuͦt gewinnent oder sich súndenklich in der gnade gottes halten. [8] Es sprichet och Richardus úber den salter, das es etwenn guͦt ist, daz den gerehten menschen und den, die erwelt sint ze ewigem leben, gnade verborgen wirt darumb, daz sú in demuͤtikait sich selber erkennen, waz sú sient | (33vb) in blosser nature und sich selben darinne núcz scheczen und sich selber in ir wesenhait vernihten. [9] Wenne im aber gnade geben wirt, so lernet er gott erkennen und mag sich denne gefuͤgen zuͦ minne, zuͦ allen tugenden nach goͤtlichem wolgefallen.


12

[1] Gnade ist nút ze scheczen nach des leben, der si empfahet, aber nach dem, der si git, ist sú ze scheczende. [2] 'Wir hǎnd och nit in disem leben ain benuͤgent gnade von úns selber wol ze tuͦnde, wan unser benuͤgent gnade ist von gott allain', sprichet sanctus Paulus. [3] Als der durhlúhtig saphir gebirt den edelen karfunkelstain, der doch vil edler ist, denne der saphir sie, als Dyas sprichet, also wirt von gnaden geborn alle tugende unde wúrkent leben und schowend leben. [4] Und joch gott selber gebirt sich in ainem lutern herczen mit gnaden in allem sinem wolgevallen nach dem aller besten, und dem menschen mag zuͦgevallen. [5] Es sprichet och Augustinus in siner epistel ainer: Es ist nút froͤlicher, denne in gnaden leben, wan gnad machet die siechen gesund, die traͤgen schnelle. [6] Die slaffenden erweket | (34ra) si, die verzagten machet si kuͤne und den willigen hilfet si und machet sú frúnde gottes und bi im ewiclich beliben. [7] Gregorius in dem buͦch von den sitten sprichet: Als sich der mensche selber ie minner ansiht, als er im selber ie minner missevalet; aber als bald er erlúchtet wirt mit gnaden, als balde missevallet er im selben und straͤffet sich denne vast. [8] 'Es ist gnade úber gnade ain hailig frowe', sprichet Salomon. [9] Die selige frowe, die bezaichnet die minnende sele, die mit gnaden wirt hailig úber hailig, won si vol gnaden ist. [10] Ez sprichet Bernhardus úber der minne buͦch: Gnade ist zemale ain suͤsse spise, die der sele nit allain geluste bringet, si widerbringet joch die sele an allem irem abnemen. [11] Und darumbe, du minnende sele, flisse dich gnade ze verdienent, als ich núnder alte dich geleret hǎn, wan gnade ist der hort gottes, ǎn den im nieman mag wolgefallen.


Zitierhinweis

Der neunte Alte. In: Otto von Passau digital, hg. im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Lydia Wegener, Elke Zinsmeister, Jens Haustein und Martin Schubert (2018-2022). Berlin. 03.03.2023

URL: https://otto-von-passau.de/chapter-detail.html?id=O6145501. Abgerufen am: 20.04.2024.