Editionskriterien

Der vierte Alte

Leithandschrift
Ka1 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. St. Georgen 64
Kontrollhandschriften
Ka2 Karlsruhe, Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 241
Ka3 Karlsruhe, Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 242
St3 Stuttgart, Landesbibliothek, Cod. theol. et phil. 2° 144

Der vierte Alte


1

[1] Der vierde alte leret, wie der mensche allen creaturen sol abgǒn; darnach wie er sich selber lǒn sol; darnach wie er sin sele hassen sol. - Daz ist der vierd alte.


2

[1] Dich, geminnte, userwelte sele, hǎnt zemale adellich und wol min drige vorgenden gesellen geleret notdúrfftkait dez ewigen lebens ze vindent und zuͦ gewinnent. [2] Aber ich vierder alt lere dich min kunste mit guͦtem flisze, dǎmit du aller umbhange,umbhang die dich gottes irren muͤgen, entlediget mahst werden, und dǎmit du got gar und gancz veraigent wirst, ob du miner kunst volgest. [3] Wan ez sprichet sant Bernhardus, daz nieman volkomen haisset noch ist, der nit volkomner begert ze werden. [4] Und dabi so erkennet man ainen volkomen menschen, daz er alle zit ie bas und ie bas und fúrbas me und me stellet nǎch aller volkomenhait.


3

[1] Ich vierder alte wise dich, minnende sele, mit miner kunst, daz du dir allez daz ab solt sprechen, daz under gotte ist, durch gottes willen und durch din selbs ledekait , und dich murcze schaiden von creatúrlichen geschoͤpften . [2] Und daz ist der ewig weg rehter volkomenhait, den unser herre Jesus Cristus selber geleret het und geuͤbet , in zit volbrǎhte. [3] Won er sprichet in dem ewangelio: 'Es si denne, daz der mensche lǎsse alles, daz er besessen hǎt, so mag er min junger nit werden.' [4] Er sprichet ǒch: 'Wilt du volkomen werden, so gange und verkǒffe alles, daz du hest, und gib ez armen lúten und kome denne und volge mir nǎch.' [5] Er sprichet ǒch: 'Der mensche, der dǎ lǎt durch gott vatter und muͦter, swester und pruͦder und hus und aͤker und waz er gelaisten mag, der wirt es hundertvaͤltege widerumb enpfahen und besiczen dǎrnǎch daz ewig leben.' [6] Dis ist alles der weg volkomens lebens, den unser herre Jesus Cristus selber gewiset het. [7] Wie wol nu daz sig, daz dem menschen alle creature ze nucze und ze troste geschepfet sient, so mag doch der mensche dǎmit verdienen , ob er ir murczes ledig unde muͤsig ist, mag doch der mensche volkomheit damit bejagen, ob er ir murczes ledig und muͤssig stǒn wil und frige und unbehenket ist ir aller. [8] Es sprichet Beda úber Lucas ewangelium: Ab sprechen allen zitlichen dingen mag der mensche tuͦn und doch daz guͦt behaben , daz ez in an sinem gemuͤte ewiger saͤlkait nút irret . [9] Aber alle zitliche dinge múrczes gancz und gar varen lǎne und sich bloͤslich mit gott allain un di i ist der reht wege und der gancze der volkomenhait.


4

[1] Nu merke du, wie du alle creature lǒn solt, ob du volkomen leben fuͤren wilt. [2] Du solt lǎn alle zitliche richtǒm diser welt, ez sig guͦt oder gúlte , ligends oder varens, golt oder silber, klainoͤt oder gewant oder waz schaͤcze sig in disem zit und wie joch hoͤrde genant sien. [3] Wan die dinger alle múgent dich gottes irren , ob du in statt und stunde gebest in dir selber und du froͤde und trost dǎvon enpfahest. [4] Won ez seit sant Gregorius in siner buͦch ainem: Du wirst erhoͤhet úber alle irdescher dinger, wenne du frischlich alle zitliche schaͤtze under din fuͤsze trukest . [5] Du solt ǒch lǎn diser welte sitte, wise, geberde, begirde , die boͤse sigen, ere diser welte, schǒnheit und gezierde , wolgevallen dem menschen, ruͦme, trǒst und froͤde, schimpf , verlǎssenhait und unzimlich geberde und wandlen vor den lúten und waz dem gelich sige oder dǎrin gevallen mag. [6] Wan ez sprichet Cristostonus der guldin munt in ainer siner epistel : Versmahe alle ere diser welte, so wirst du geeret úber alle ding. [7] Versmahe bestetgung und bis diner fient frúnde, so úberwindest du si. [8] Versmahe ruͦme und verlǎssenhait , so wirst du geseczet in ewigen frid. [9] Ǒch solt du murcze lǎne alles, daz dir sehen, hoͤren, beruͤren, smaken , enpfinden moͤge moͤge von allen creaturen inbildunge i ntragen und waz dich inwendigen goͤtliches schǒwen geirren múge. [10] Wan ez sprichet Seneca in siner epistel ainer: Der ab wil legen und ledig und frige stǎn wil aller geschaffner dinge, die brúchenlich und vellig mugen machen, der sol alle sin sinne und gemuͤte mit flis davon keren, so belibet er unbehenket und ǒch unbekúmert aller creatúrlichen wise.


5

[1] Daz sich aber der mensche nit ergit in ain volkomen leben und sich zemǎl nit ǎnet aller creaturlicher dinge, daz machet etwenn sin aigen narunge, daz er essen und trinken muͦsz hǎn und klaider und ander notdurft und slǎffen und ruͦwen muͦsz und in hitze kuͤli und in kelti wermi hǎn und ander wise, die dǎrinne vallent und irrent in an volkomern hailgem leben in zit. [2] Aber dis gebresten alle suͤllent dich, minnende sele, nit irren an volkomenhait. [3] Wǒn es sprichet die goͤtlich wǎrhait Jesus Cristus im ewangelio, daz unser vatter von himelrich wol waisz,waisz daz wir essen und trinken und klaider bedúrffen. [4] Wǒn der, der die bluͦmen uf dem velde klaidet und die vogel in dem luft spiset und den menschen gemachet het ǎne sin hilfe und zuͦtuͦn , der mag den volkomen menschen wol versehen an aller siner notdurft , ob er aller creaturlicher dinge durch gottes willen ledig und frige stǎt und in nút bekúmert denne gott allain. [5] Dǎvon so leret úns sant Petrus in siner epistel und sprichet: 'Ir sǒnt allen úwern flisse in gotte legen und werffen, wǒn er ist der, der uns besorget an aller unser nǒtdurft .' [6] Und Davit der spricht in dem salter: 'Ich gesache nie kainen gerehten menschen, den gott lies in der nǒt bestecken noch verderben .' [7] Och sprichet er in ainem andern psalmen: 'Wirf din zuͦversiht in gott, so erneret er dich.' [8] Sant Gregorius sprichet in dem buͦch der wisunge : Der mensche entzúhet und entfroͤmdet sich herlich und wol aller creature, der sich allain bevilhet dem schoͤpfer der creaturen und sin hercze gancz und gar gott allain emphilhet und nieman me zuͦ ime. [9] Die zwelf botten hetten nit golde noch silber uf ze gebende noch dehainerlai schaͤcze, aber mit willen und mit herczen gǎbent sie uff alle dis welt. [10] Es sprichet sant Jeronimus, wie wol daz sie, daz dis sie der wege der volkomenhait, daz man alle dinge durch gottes willen lǎt, als Jesus Cristus alle dinge durch unsern willen hǎt gelǎn.


6

[1] Doch so wil ich dich, minnende sele, noch vil groͤsser volkomenhait bewisen us miner kunste. [2] Es ist ain clain dinge ze lǒn, daz der mensche nit ist von wesenhait , aber daz sich der mensche selber lǎt und im selber ab sprichet alles, daz er selber ist, daz zúhet vil naͤher uf volkomenhait, denn daz er lǎt allain daz guͦt, daz er besessen hǎt und zergenclich ist. [3] Wan ez spricht sant Gregorius in ainer omelye : Es ist nit also arbeitsaͤlig ze lǒnde varende und ligende guͦt und zitlich schecze als gar grǒsz ist und arbaitsaͤlig , daz der mensche ze grunde sich selber lǎt und im selber ab sprichet alles, daz er ist in siner menschlichen nature. [4] Wan dǎran merket man zemale ainen grǒszen durchbruch dez menschen. [5] Es sprichet Seneca dem ǒch geliche: Der mensche mag gar lihte alle zergengcliche ding varen lǒn und versmahen , der sich selber an aller siner nature und an im selber zemǎle hǎt varen gelǎn und sich selbe murczes ganczes und gar het abgesprochen . [6] Er sprichet ǒch: Wilt du alle ding hǎn, so solt du alle ding versmǎhen . [7] Uf din selbs abgeschaidenhait wiset dich die goͤtlich wǎrhait Jesus Cristus in dem ewangelio und sprichet: 'Der mir nǎchvolgen wil, der spreche sich selber abe und neme sin cruͤcze uff sich und volge mir nǎch.' [8] Die lere suͦchet gar nǎch des menschen volkomenhait, wie er im selber sol abgǎn. [9] Und wilt du dich selber ab sprechen , so solt du dich aller flaischlicher gelúste und aller begirde , daz dinem libe mag zuͦ gevallen , entanen mit allem flisze, und waz dich menschlicher bekorunge bestǎt , den solt du entwichen und in kain benuͤgen sin. [10] Du solt dem gelust dines libes niemer kain benuͤgen sin, wan er suͦchet diner selle verderben . [11] Din hercze sol als rain und als luter sin, daz es dinem libe kain verhenknuste geben sol ze boͤsen werken. [12] Und dǎrumb, ist din ǒge ain schalk in boͤser gesiht, so stich ez us. [13] Und ist din hant ergerlich an iren werken, so slahe si abe, wan ez sprichet unser herre Jesus Cristus in dem ewangelio, daz dir waͤger ist, mit ainem ǒgen und mit ainer hant in daz himelrich ze komende, denn mit baiden henden und fuͤszen in die helle ze farent. [14] Daz verstande also, daz es vil waͤger ist, gott ze dienent mit ainem volkomen werke, denn mit vil werken ǎn alle volkomenhait. [15] Du solt dich selber also absprechen und din selbs verloͤgnen also, daz din wille gancz sig geformet , goͤtlichen willen ze volbringent in aller gehorsami gottes und des menschen.


7

[1] Du solt dir selber ab gǎn an allem trǒst dez libes, wie er joch genannt sige, durch dez ewigen trǒstes willen. [2] Du solt die gerehtikait volbringen und dinen libe dǎrvmb wǎgen und solt goͤtlichen dienste und sin lobe und sin ere ǎn underlasz uͤben und dinen libe dǎrinne niht sparen, weder tag noch naht. [3] Dinem libe solt du kain zarthait verhengen noch vertragen noch fulkait , die in gottes geierren muͤgen. [4] Din libe sol ǒch dem gaiste undertǎn sin und snelle volgen der vermanunge und dem insprechen der sele. [5] Dǎvon sprichet sant Bernhardus zuͦ den bruͤdern an dem gottes berge: Du solt dinen lip halten als ainen siechen und als ainen betler. [6] Waz der siech haischet , daz ist im schade, und der betler haischet , daz man im nit git. [7] Und sol dir din libe als versmaͤht sin, als moͤhtist du ǎn in leben. [8] Johannes Crisostonus der guldin munt sprichet in dem buͦch von dem rúwigen herczen: Din sel ist nit gemachet durch dez libes willen, aber din lib ist gemachet durch der sele willen. [9] Der aber sin sele versumet durch dez libes willen und sinen lip hoͤher scheczet und im mer volget denabgeschaidenne siner sele, der verlúret lib und sele. [10] In soͤlicher wise solt du dich dir selber ab sprechen an dinem libe und dǎrumb, daz du daz cruͤcze uf dich niemest. [11] Won wenne du dinem libe genczlich bist abgegangen, so ist dir alles daz lihte ze liden , daz dinem libe kan und mag zuͦgefallen widerwaͤrtikait, es sige in siechtagen, in armuͦt, in hunger, in durste, in kelte, in hicze, in not, in anvehtung der boͤsen gaiste oder der welte, in angste, in marter, in twangsali , in betruͤbt oder in allem liden , daz diner menschait mag zuͦgevallen und in allem dem, daz dir mag ain cruͤcze und ain liden sin, wie daz genannt sige. [12] Sunderlich wenne du als volkomen bist, daz du gott me bittest, daz er dir liden gebe, denn daz er dir liden neme, so treist du daz cruͤcze rehte. [13] Dǎvon so sprichet sant Gregorius in siner lere: Als des menschen lip ie me gedruket wirt mit liden , als sich sin gemuͤtte ie mer erfroͤwet der himelschen zuͦversihte ; und als des menschen gemuͤte ie groͤsser iǎmer het nǎch goͤtlicher wollúste , als der libe ie minder ahtet scharpfhait des lidens . [14] Also solt du Jesu Cristo nǎchvolgan und ǒch siner lere und sinem leben, als sant Johannes tet. [15] Der liesz vater und muͦter, schiffe, necze, willen, muͦt und guͦte und volget Jesu nǎch und ǒch andran zwelfbotten und dǎrumb sprichet der bǎbest in den rehtbuͦchen sanctus Augustinus sprúche also: Der mensche lǎt alle ding ab, der sich nút allain ergit in dem, daz er gelaisten mag joch in dem, daz er in willen het, daz er sich des murczes gar entzihet. [16] Saͤlig sint die, die es tuͦnd.


8

[1] Fuͤrbas wise ich dich - vierder alte dich, minnende sele - mit miner kúnste noch uf daz aller naͤste ze lǒnde, ob du volkomenhait begriffen wilt in der hoͤhsten wise, und daz ist din aigen sele, die du lǎn und hassen solt durch gottes willen. [2] Und daz ist vil groͤsser und merer denne lǎn alles zitlich guͦt und ǒch alles, daz zuͦ dem libe gehoͤret, daz ist dem menschen nit als grǒsz und swaͤr ze lǎn als sin aigen sele, die ime naͤher lit denne lip und guͦt. [3] Dis leret uns unser herre Jesus Cristus in dem ewangelio und sprichet: 'Der sin sele vinden wil, der verliere si; und der si verlúret, der findet si.' [4] Und sprichet ǒch in dem ewangelio an ainer andern statt: 'Der sin sele minnet, der verlúret si; der aber sin sele hasset in diser welte, der behuͤtet si in dem ewigen leben.' [5] Úber dis ewangelium sprichet sant Augustinus: Du solt din sele nit minnen in disem leben, daz du si út verlieriest in dem ewigen leben. [6] Und fuͤrbas sprichet er: Hest du din sele bloͤslich geminnet, so hǎst du si gehasset. [7] Hest du si aber wol vast gehasset, so hest du si wol geminnet.
[8] Saͤlig sint die, die si hassent und ir doch wol huͤtend , dǎrumb daz si sú út verlierent mit minne ir selben. [9] Bi disem sinne so verstǎt man wol, wie du din sele lǎsen solt. [10] Wǒn es sprichet Hugo von sant Victor, daz die sele vil me dǎ ist und ǒch wonet, dǎ si minnet, denn dǎ si selet . [11] Daz verstǎnd also: Wǎ die sele ir minne hin wirffet, dǎ ist si aller maist, und waz si minnet ǎne gott, dǎ mit so verlúret si gott, si minne es denn durch gott. [12] Und waz si minnet in creaturen durch ir selbs willen e durch der creatur willen, daz ist ain verlorne, ungeordneti minne. [13] Wan si gott allain aber minnet, so het si alle ding in gott geminnet. [14] Von disem sinne wirt dich min geselle, der ahtende alte, vil leren. [15] Es sprichet sant Bernhardus in ainer predige úber der minne buͦche: Als die sele ie basz erkennet iren ursprunge, als si ie mer hasset ain unendlich verworfen leben. [16] Und dǎrumb hett gott die sele gemachet, daz si ist wit und enge. [17] Wite, daz si in allen dingen erspúren mag goͤtliche mehtikait und wiszhait. [18] Enge, daz si sich zwingen mag vor aller widerwaͤrtikait. [19] Daz der und mit im Gregorius von den sitten.


9

[1] Merke ǒch, das Origenes sprichet úber die epistel , die Paulus schribet den roͤmern, die sele ist ain mitel zwúschent flaische und gaiste. [2] Und wenne si sich dem flaisch erbútet , so wirt sú ains mit dem flaisch. [3] Wenne si sich aber dem gaist zuͦfuͤget, so wirt si ains mit dem gaist. [4] Wǒn aber gott der aller edlest und luterst gaist ist, als balde si sich dem erbútet , als bald wirt si ains mit gott. [5] Es mag ǒch die sele gott niemer begriffen, sprichet sant Augustinus, si habe denne ee úbertroffen und mit gewalt úberklommen alles zitlich guͦt und iren aigen lip und joch sich selber in aller kraft úberwunden. [6] Und also sprichet er úber sant Johannes ewangelium: Die sele mag gott mit dehainen dingen als adelich begriffen als mit bekennen und mit begirde . [7] Die zwai, sprichet sant Hugo úber die cristanliche jerachie, ordenent die sele, daz si ital guͦt wirt und daz die sele kainer creature ahte naͤme und sich selber vernihtet. [8] Und mangelt si der zwaiger dinge, so ist si nit vor gott. [9] Mit bekennen in wishait vindet si die warhait, die gott selber ist. [10] Mit begirde der minne umbefahet si die ckraft gottes, dǎrinne si sich selber verlúret und ains mit got wirt. [11] Ach wie guͦt ist úber alle mǎsse volkomenen menschen und lúten alle dinge lǎn, daz dis zit begriffen hǎt, und sich selber absprechen an libe, und daz die sele ir selber warneme durch gottes willen gancze und gar.


Zitierhinweis

Der vierte Alte. In: Otto von Passau digital, hg. im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Lydia Wegener, Elke Zinsmeister, Jens Haustein und Martin Schubert (2018-2022). Berlin. 03.03.2023

URL: https://otto-von-passau.de/chapter-detail.html?id=O0496413. Abgerufen am: 19.04.2024.